Ketamin

Der Ketamin-Wirkmechanismus

Allgemeines zu Ketamin

chemische Formel von Ketamin

Ketamin ist in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgeführt [1]. Es hat einen gänzlich anderen Wirkmechanismus als alle anderen Antidepressiva. Es blockiert die sogenannten NMDA-Rezeptoren im Gehirn (als nicht-kompetitiver Antagonist am NMDA-Rezeptor). Neben der Wirkung am NMDA-Rezeptor wirkt Ketamin auch über eine Hemmung der Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme, als σ-Rezeptoragonist sowie als µ-Rezeptoragonist. Die klinische Bedeutung dieser zusätzlichen Rezeptoraffinitäten ist gegenwärtig unklar.

Details für fachlich Interessierte

lesender Arzt am Schreibtisch

Ketamin, das bereits nach einmaliger Injektion Depressionen über längere Zeit zu lindern vermag, erzielt seine Wirkung einer Studie in Nature (https://www.nature.com/articles/nature25509) zufolge in den NMDA-Rezeptoren (bislang bezüglich der Pathogenese der Depression wenig beachteten Membrankanälen in den Habenulae, epiphysennahen Kernzentren).  Man geht davon aus, dass eine depressive Stimmungslage dadurch erklärt wird, dass plötzliche Entladungen („bursts“) solcher Nervenzellen (durch Aktivierung der NMDA-Rezeptoren) die Belohnungszentren des Gehirns hemmen. Unterbricht man diese Dysfunktion durch Blockierung der Rezeptoren (z.B. mit Ketaminzufuhr), löst sich dieser Pathomechanismus wieder und die Depression verschwindet.

Aus dem Blickwinkel der Biochemie beruht die Ketaminwirkung auf der hohen Affinität als nicht-kompetitiver Antagonist am NMDA-Rezeptor. Diese Affinität ist in geringeren Dosierungen deutlich reduziert. Neben der Wirkung am NMDA-Rezeptor wirkt Ketamin auch über eine Hemmung der Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme, als σ-Opiatrezeptor-Agonist sowie als µ-Opiatrezeptor-Agonist. Die klinische Bedeutung dieser zusätzlichen Rezeptoraffinitäten ist gegenwärtig unklar [8].

Es mehren sich die Hinweise, dass Ketamin sich auch sehr sicher und gut einsetzen lässt bei der Behandlung von Krampfanfällen (sogar therapieresistenten Formen), obgleich in Deutschland  immer noch die Falschinformation sogar von Klinikern gestreut wird, Ketamin sei krampfschwellensenkend. Dabei würde ein einfacher Blick in den Beipackzettel (die Fachinformation zu Ketamin) genügen, um zu sehen, dass dies nicht stimmt. Ketamin wird auch eingesetzt im Rahmen der Elektrokonvulsionstherapie (EKT), wo man davon ausgehen muss, dass die Allgemeinanästhesie die Krampfneigung senkt. Ketaminverwendung ist mit einer Verringerung der Krampfneigung verbunden [2-10]. Das eröffnet die Möglichkeit, Ketamin auch mit rTMS (der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation) zu kombinieren. Der antikonvulsive Effekt beruht dabei nicht nur auf der Bindung am NMDA-Rezeptor sondern auch auf den agonistischen Effekten auf die GABA-A und GABA-B-Rezeptoren [6, 9].

Nebenwirkungen von Ketamin

ausruhende, lächelnde Frau mit roter Bluse, die den Ketamin-Dämmerschlaf symbolisiert

Die Behandlung ist nebenwirkungsarm, Ketamin ist nicht suchterzeugend und sehr gut verträglich, sollte aber nur unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden, nämlich immer dann, wenn die herkömmlichen Methoden wie Pharmako- und Psychotherapie nicht ausreichend wirkten bzw. an Nebenwirkungen oder Ausschlusskriterien scheiterten und wenn darauf geachtet wird, dass Menschen mit Psychosen, Bluthochdruck, schweren Herzerkrankungen, oder nach Schlaganfällen ausgeschlossen werden. Es muss auch beachtet werden, dass der Patient nach der Infusion für den Rest des Tages nicht fahrtauglich ist. Daher ist eine Begleitperson oder zumindest jemand erforderlich, der den Patienten abholt. Weitere Informationen erhalten Sie auf der Seite der häufig gestellten Fragen (FAQ).

Subjektiv

Häufig verspüren die Patienten ein Gefühl der Wärme und vergleichen das mit einem Zustand leichten Angetrunkenseins.  Manchmal sind die Infusionen begleitet von Träumen. Sehr selten kommt es zu Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Verwirrung, Schwindel, Derealisation oder Schwitzen. Gelegentlich, aber nicht immer, kann es während der Infusion zu einer Wahrnehmungsbeeinträchtigung, einem sogenannten dissoziativen Erleben kommen, einem Gefühl zu schweben. Manche Patienten beschreiben das als eine Art „High-Gefühl“. Selbst wenn sie auftreten, werden all diese Empfindungen von den Patienten nach der Ketamin-Infusion nicht als unangenehm beschrieben. Über diese theoretisch denkbaren Nebenwirkungen muss zwar aufgeklärt werden, wir vermeiden sie aber weitestgehend durch die Midazolam-Titrierung.

Die aufgeführten Nebenwirkungen treten deutlich auf, wenn Ketamin allein verabreicht wird. Das vermeiden wir, indem wir bereits vor Beginn der Infusion intravenös ein kurz wirksames dämpfendes Medikament aus der Gruppe der sogenannten Benzodiazepine (Midazolam) verabreichen. Wenn dann überhaupt Nebenwirkungen auftreten, dann sind diese deutlich gedämpft, sodass man von einem sehr schonenden und sanften Verfahren sprechen kann. Nicht ohne Grund wurde und wird Ketamin bei ambulanten Anästhesien, bei Kindern, im Notarztwagen, im Kreißsaal und bei Kurznarkosen sehr gern eingesetzt und von Anästhesisten geschätzt.

Objektiv

Ketamin-Infusionspumpe und Überwachungsmonitor

Mögliche Nebenwirkungen sind Blutdruckerhöhungen, Pulsbeschleunigungen, vermehrte Speichelproduktion. Das alles wird überwacht und bei Auffälligkeiten pharmakologisch kontrolliert.  Für Patienten mit schlecht eingestelltem oder hohem Blutdruck kommt die Behandlung dennoch nicht infrage. Auch kann es zu Hautrötungen und Schmerzen an der Einstichstelle kommen. Während der Infusion und der Nachüberwachungszeit erfolgt eine Überwachung mit EKG-Monitor, die Messung der Sauerstoffsättigung und des Blutdruckes.

Unsere Patienten dissoziieren nicht und haben keine Wahrnehmungsveränderungen, weil wir

  • Ketamin in subdissoziativen Dosierungen einsetzen. Es ist nicht erforderlich, Dissoziationen zu provozieren, um die antidepressive und analgetische Wirkung zu bekommen
  • Hochleistungs-Infusionsautomaten aus dem Bereich der Intensivmedizin verwenden, die absolut exakt und zuverlässig den Wirkstoff über den gesamten Anwendungszeitraum applizieren
  • das Razemat Ketaminhydrochlorid (und nicht Esketamin) einsetzen, das dissoziative Nebenwirkungen weit weniger produziert
  • unsere Patienten in einem ruhigen reizabgeschirmten Raum behandeln außerhalb der unruhigeren regulären Sprechzeiten
  • wir durch Titrierung von Midazolam für einen leichten erholsamen und entspannten Dämmerschlaf sorgen. Zum Entlasszeitpunkt fühlen Sie sich ausgeruht und frisch
  • der Arzt während der gesamten Zeit der Anwendung neben Ihnen ist und Sie überwacht – wie bei einer Anästhesie.

Zulassung, Sicherheit und Qualifikation

Im März 2019 hat die Food and Drug Administration für die USA Ketamin zur Behandlung der therapieresistenten Depression zugelassen. Aber auch in Europa ist der Einsatz des Präparats als Off-Label-Therapie im Rahmen eines individuellen Heilversuches unproblematisch: Da das Präparat zugelassen ist, bedarf es nur der ausführlichen Information des Patienten. Off-Label-Therapien sind in vielen Bereichen der Medizin vollkommen normal und geläufig.

Unsere Praxis ist von der kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen als besondere Therapieeinrichtung anerkannt und nimmt an der Qualitätssicherungsvereinbarung für chronisch Schmerzkranke teil. Sie erfüllt die Standards einer Anästhesie- und Intensiveinheit. Dr. Tamme ist u.a. Facharzt für Anästhesiologie, arbeitete mit Ketamin über viele Jahre im Operationssaal und im Rettungsdienst, war langjährig aktiv tätiger Rettungsmediziner auf Notarztwagen, Helikopter und Langstreckenflugzeugen.

Gegenanzeigen (Kontraindikationen)

Beipackzettel

Aufgrund des bekannten sympathomimetischen Effekts von Ketamin sollte es grundsätzlich nicht angewandt werden, wenn ein Anstieg von Herzfrequenz und arteriellem Blutdruck kontraindiziert ist.

bei kardiovaskulären Erkrankungen:

  • koronare Herzerkrankung, instabile Angina pectoris
  • schlecht eingestellte arterielle Hypertonie
  • manifeste Herzinsuffizienz
  • Aorten- und Mitralstenose

bei endokrinen Veränderungen:

  • Phäochromozytom
  • schlecht oder nicht eingestellte Hyperthyreose

bei erhöhtem intracraniellem oder intraokularem Druck (Hirndruck oder Augeninnendruck erhöht)

Basierend auf psychiatrisch relevanten Effekten

  • bei Psychosen
  • bei Schizophrenie
  • bei emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen
  • bei Depersonalisation und Derealisation

Basierend auf Berichten über vorübergehende flüchtige Lebereffekte

  • bei schweren Lebererkrankungen

Basierend auf fehlenden Daten

  • bei Schwangerschaft

Publikationen zur Ketaminbehandlung

Forscherteam vor Bildschirmen

Interessierte finden hier eine Auswahl aussagekräftiger wissenschaftlicher Fachpublikationen

Depression [11-17]

Bipolare Störung [18]

Posttraumatische Belastungsstörung [19, 20]

Angsterkrankung [21]

Zwangserkrankungen [22-24]

Chronischer Schmerz [25-38]

Neuropathischer Schmerz [35]

CRPS [25-27, 29, 32]

Fibromyalgie [33]

Clusterkopfschmerz [39] Migräne [40]

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